"Wir haben es zur Zeit offenbar mit einer gezielten Selbstzerstörung der deutschen, europäischen, westlichen Kultur zu tun." Dieser Satz stammt von Rolf Peter Sieferle, ein deutscher Historiker und Autor, der, was die Willkommenskultur betrifft, wohl ziemlich genau meine Gegenposition vertrat. Vertrat, muss ich sagen, denn Sieferle hat sich im September 2016 das Leben genommen. Die Zerstörung unserer Kultur sah er als Prozess, den man weder aufhalten noch umkehren könne. "Man muss ihm einfach nur gelassen in die Augen blicken und wissen, wann es an der Zeit ist, die Bühne zu verlassen." (Tumult, 14.09.2016)
Wie gesagt, ich stehe genau am anderen Ende der Meinungslinie. Sowohl, was das erste Zitat, als auch den letzten Satz betrifft. Gerade jetzt wäre es fatal, die Bühne zu verlassen. Gerade jetzt sind wir alle gefragt, denn es geht nicht pauschal um die Zerstörung der deutschen, europäischen oder westlichen Kultur – es geht darum, dass wir uns zerstören. Das, was uns Menschen im Kern eigentlich ausmacht. Das, was uns ja angeblich von den Tieren unterscheidet. Unsere Fähigkeit zum Gefühl. Unsere Fähigkeit diese Gefühle zu reflektieren. Was allerdings geschieht, ist eher das Gegenteil von Gefühlsreichtum: Mehr und mehr sind wir gefühlsreduziert. Anders ist es nicht zu erklären, dass wir so etwas ignorieren:
"Die Flüchtlinge im EU-Hotspot auf der griechischen Insel Samos sandten einen letzten Hilferuf aus: "Bitte! Tut etwas!", erklärten sie in einem Statement am Dienstag vor einer Woche. "Wir haben kein Brot mehr und kein Wasser. Wir sind krank. Es gibt keine Ärzte. Die Menschen sterben." (Spiegel Online 02.02.2017)
Was ist mit unserer Moral? Wertlos. Sie kann nur noch existieren durch massive Verdrängung. Wir verdrängen das Elend vor unserer Haustür. Wir verdrängen den Tod unschuldiger Menschen. Dafür empören wir uns lieber wieder lauthals, wenn wir unsere freiheitlichen Werte eingeschränkt sehen. Man könnte verzweifeln. Das ist der Punkt, an dem ich Sieferle verstehe. Auch wenn er aus völlig anderen Gründen verzweifelt war. Aber wie gesagt: die Bühne zu verlassen, wäre genau das falsche Signal. Was wir brauchen ist das, was Schröder mal sagte, obwohl er es in einem anderen Zusammenhang meinte: Es ist der "Aufstand der Anständigen". Jene, die noch einen Funken Gefühl in sich tragen, müssen aufbegehren. Es ist nicht das erste Mal, dass ich das schreibe. Das macht aber nichts. Mein Standpunkt ist eben nach wie vor derselbe und es darf uns ruhig zu den Ohren herauskommen, vielleicht passiert dann endlich was.
Ich komme mehr und mehr zu dem Punkt, dass es nicht mehr reicht, im kleinen zu agieren. Wenn wir wirklich etwas verändern wollen, müssen wir an den wichtigen Stellschrauben drehen. Sätze wie die aus Brüssel, dass man die Geflohenen nicht von den Inseln evakuieren könnte, weil das dem Eingeständnis einer gescheiterten Asylpolitik gleichkommen würde, müssen in der Luft zerfetzt werden. Und ehrlich: Menschen, die solche Sätze sagen, sitzen auf dem falschen Stuhl.
Ich weiß, ich lasse mit dem, was ich schreibe, einige wieder ratlos zurück. Weil sie ebenso empfinden wie ich und nicht wissen, wo die Stellschrauben sind, an denen man drehen kann. Ich denke, Sie sind in der Politik. Ich bin der Meinung, dass wir wieder politisch werden müssen. Es reicht nicht mehr, über die da oben zu meckern. Wir sind aufgefordert, mitzugestalten. Unsere Trägheit abzuwerfen. Unsere Ängste zu identifizieren und sie zu beherrschen. Das ist der Weg.
Kommentare:
Liebe Frau Hagen,
ich verstehe gut, dass Sie in der gegenwärtigen Situation im Sinne der notleidenden Menschen aktiv werden wollen. Es ist gut, sein Herz für die Not zu öffnen. Allerdings scheint es mir auch wichtig, gut und genau hinzuschauen. Was geht da vor, was sind die Hintergünde und Zusammenhänge? Ich habe damit begonnen und schon einiges herausgefunden. Deshalb habe ich sehr den Eindruck, dass diese Krise nicht mit Wohltätigkeit bewältigt werden kann. Ich will Sie überhaupt nicht entmutigen, in dieser Hinsicht tätig zu werden. Das ist auf jeden Fall gut. Aber es wird das Problem nicht lösen. Das sollten wir klar sehen, weil wir uns sonst überfordern. Und damit ist niemandem gedient !!! Wir in den Industrieländern haben Handlungsmöglichkeiten, die die Menschen in den armen Ländern nicht haben. Darin sehe ich eine Verantwortung. Wir sollten meines Erachtens sinnvoll handeln. Ich habe da auch keine Patentrezepte, aber ich kann auf ermutigende Impulse hinweisen.
Kennen Sie die Arbeit von Vivian Dittmar? Sie hat sehr gute Beiträge zu den Themen Umgang mit Gefühlen (die Kraft, die wir aus unsererem Schmerz, unserer Angst, unserem Zorn, unserer Trauer und unserer Freude beziehen können) und über Beziehungen (das evolotionär neuartige Projekt, Beziehungen auf Augenhöhe leben zu wollen) veröffentlicht. Es gibt auch Interviews mit ihr auf youTube. Sie ist eine beeindruckende Persönlichkeit. Aber ich erwähne sie hier vor allem wegen ihrer Stiftung "Be the Change". http://be-the-change.de/ , die ich sehr inspirierend finde.
Herzliche Grüße
Susanne Wittern
Liebe Susanne Wittern, vielen Dank für Ihren Kommentar. Ich stimme mit Ihnen komplett überein: Wohltätigkeit ist nicht die Lösung. Sie darf es gar nicht sein. Wir brauchen andere Konzepte.
Ihren Hinweis auf Vivian Dittmar nehme ich gern an. Bin gespannt.
Herzliche Grüße,
Jeannette Hagen
Noch als Ergänzung, damit wir uns nicht falsch verstehen: in den Notsituationen, in denen sich die meisten Geflohenen momentan befinden, sind sie auf Wohltätigkeit angewiesen. Hier ist sie kurzfristig notwendig. Aber es darf eben nicht dabei bleiben.
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